Am 8. September, dem zweiten Sonntag des Monats begehen wir traditionalle den Gedenktag an die Opfer des Faschismus. Zu diesem Ereignis sind auch dieses Jahr wieder knapp 50 Menschen zusammengekommen, um Blumen am KZ-Denkmal an der Friedenseiche am Steintor in Rostock niederzulegen. Dieses Jahr haben wir Cornelia Mannewitz, als Aktive aus der GEW M-V und dem Rostocker Friedensbündnis bekannt, gebeten einen inhaltlichen Beitrag zu leisten. Diesen wollen wir Euch hier nun zur Ansicht geben:
Liebe Freundinnen und Freunde,
vielen Dank für die Ehre, hier sprechen zu dürfen.
Ich möchte Euch ein paar Anmerkungen zu den Wörtern „Frieden“, „Hass“ und „gespaltene Gesellschaft“ vortragen – ein bisschen sprachwissenschaftlich, ein bisschen literarisch, ein bisschen historisch –, die mir Sorgen machen, und ich möchte wissen, was Ihr davon haltet.
Als Friedensbewegte bin ich immer wieder überrascht, was alles als „Frieden“ bezeichnet wird.
Ein Beispiel: Ende August ist in Chemnitz der Syrer Alaa S. zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt worden; zum Glück noch nicht rechtskräftig. Man wirft ihm vor, zusammen mit einem Iraker vor einem Jahr am Rande eines Stadtfestes einen Deutschen erstochen zu haben.
Ein gefundenes Fressen für Rechtsradikale: Rechte Demonstrationen folgten, Hetzjagden auf ausländisch aussehende Menschen fanden statt.
Dem Beschuldigten Alaa S. ist kaum etwas nachzuweisen: Weder DNA-Spuren vom Opfer noch Spuren einer Auseinandersetzung konnten bei ihm festgestellt werden. Der einzige interessante Anhaltspunkt war die Zeugenaussage eines Mitarbeiters eines Döner-Imbisses in einiger Entfernung vom Tatort. Die Ermittler haben nachgestellt, wie viel man aus dem Fenster sehen kann, aus dem der Zeuge angeblich blickte. Ergebnis: Es ist kaum etwas zu sehen, der Tatort war weit weg und der Zeuge verwickelte sich vor Gericht in Widersprüche.
Das Problem ist nur: Der wahrscheinlichste Täter hat sich abgesetzt. Er ist nicht zu fassen. Dafür sollte der, den man hat, jetzt verurteilt werden. Die Oberbürgermeisterin von Chemnitz hatte erklärt, sie fürchte einen Freispruch. Sie hoffe, mit einer Verurteilung würde in der Stadt endlich wieder Ruhe einkehren. Der Bundespräsident war in Chemnitz gewesen und hatte die Bürger zum Engagement für gesellschaftlichen Frieden aufgefordert. Diesem Frieden ist auf jeden Fall schon einmal ein Mensch geopfert worden: Alaa S.
Nun ja (einmal ganz abgesehen davon, was diese Vorgänge über die Unabhängigkeit der Chemnitzer Justiz aussagen): Die AfD hat bei den sächsischen Landtagswahlen dieses Jahr in Chemnitz 25% Prozent geholt. Die Szene der Neonazis hat in Chemnitz schon eine lange Geschichte. Sie brachte rechtsradikale Musikgruppen hervor. Eine der wichtigsten deutschen Plattenfirmen für Rechtsrock sitzt in Chemnitz. Das rechtsradikale Presseorgan „Blaue Narzisse“ war ursprünglich eine Chemnitzer Schülerzeitung. Der Chemnitzer FC hat eine stabile rechtsradikale Fanszene. Im März hielt sie im Stadion mit Pyrotechnikshow und riesigem Transparent eine Trauerkundgebung für einen verstorbenen rechtsradikalen Hooligan ab.
Sollen auf dieser Grundlage mit diesem Urteil Ruhe und Frieden in Chemnitz einkehren?
Es hat auch nichts gebracht. Auch nach dem Urteil haben rechte Demonstrationen stattgefunden. Der Geschäftsführer des Chemnitzer FC soll kürzlich von Fans als „Judensau“ beschimpft worden sein. Was ist das für eine Ruhe? Was ist das für ein Frieden?
Ja, das Wort „Frieden“ hat eine Vielzahl von Bedeutungen. Nur fragt sich, ob jede davon der heutigen politischen Situation angemessen verwendet wird. Noch ein Beispiel für „Frieden“, das man öfter hören kann: Frieden beginne im Kleinen. Wer sich zu Hause gut verträgt, wer seinen Nachbarn hilft, wer in Auseinandersetzungen keine Gewalt anwendet, trage zum „inneren Frieden“ bei. Der sei auch sehr wichtig. Wer aber auf Ausländer schimpft, wer seine Sprache verrohen lässt und im Internet Hasskommentare verfasst, trage zur Spaltung der Gesellschaft bei. Und dann könne es ja auch mit dem Frieden nichts werden.
So hört und liest man es immer wieder, auch auf Demonstrationen gegen Rechts, auch von linker Seite: „Gegen den Hass“, „Hass ist keine Alternative“ und so weiter. Was ist denn damit gemeint? Die Verrohung der Sprache ist ein Symptom – für fehlende politische Kultur. Woher soll die aber auch kommen, wenn die Verhältnisse keine Solidarität erlauben, wenn alle nur noch Individualisten sind, die sich in einem auf Konkurrenz gegründeten Wirtschaftssystem durchboxen müssen? Mit „Hass“ irgendetwas erklären zu wollen, ist bestenfalls hilflos, eher beschönigend, schlimmstenfalls bewusst irreführend. Dazu nachher noch mehr.
Es ist doch paradox: Ich persönlich hasse den Krieg. Ich hasse auch den Faschismus. Soll ich den Krieg, den Faschismus nun lieben, nur, damit ich nichts dazu beitrage, dass die Gesellschaft weiter gespalten wird?
Die Gesellschaft im Kapitalismus ist gespalten. Dazu braucht man nichts beizutragen. Sie ist gespalten mindestens zwischen den Eigentümern von Produktionsmitteln und den Nichteigentümern von Produktionsmitteln. Das ist ein Satz wie aus dem Lehrbuch, aber das ist die beste Erklärung. Das ist eine strukturelle Frage. Wenn man Begriffe wie Frieden und Hass aus der privaten Sphäre holt und sie auf gesellschaftliche Strukturen anwenden will, ist das nicht sachgerecht. Es behindert nur das Verstehen.
Beispiel: Hans Joachim Pabst von Ohain, einer der Erfinder des Strahltriebwerks, war – so berichten es alle Zeitzeugen – im Privaten und wahrscheinlich auch auf der Arbeit ein außerordentlich liebenswürdiger und zuvorkommender Mensch. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, für den Rüstungsproduzenten Ernst Heinkel zu arbeiten und damit seine Erfindung in den Dienst des Krieges zu stellen (kleine Ironie: Heinkels Unternehmen war auch „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“, mit klaren Verhältnissen zwischen „Führer“ und „Gefolgschaft“, also ein Ort geradezu idealen „inneren Friedens“ …). Und Ohain scheute sich auch nicht, sich nach dem Krieg für militärische Luft- und Raumfahrtprojekte in den USA einspannen zu lassen.
Oder: Wir haben gerade dieser Tage an den 1. September erinnert, den Tag des faschistischen Überfalls auf Polen und Beginn des Vernichtungskriegs im Osten. Hans Frank wurde dort Generalgouverneur: der „Schlächter von Polen“, im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Er war gebildet und bewies stets gute Umgangsformen: Er war Jurist, spielte Klavier, war Opernliebhaber, Kenner der Philosophie, pflegte Umgang mit Künstlern. Er war bestimmt ein treusorgender Vater: Er war verheiratet, hatte fünf Kinder, über Eheprobleme ist nichts bekannt. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, in Polen Universitäten und höhere Schulen zu schließen und Professoren ins KZ zu schicken. Für polnische Kinder war nur Grundschulbildung vorgesehen. Er konfiszierte den gesamten staatlichen, privaten und kirchlichen Kunstbesitz. (Etliches davon landete auch bei ihm zu Hause.) Er wollte die intellektuelle Zukunft Polens zerstören. Natürlich auch die Juden. In seinem Machtbereich wurden vier Vernichtungslager eingerichtet. Sein Sohn Niklas hat beschrieben, wie seine Mutter, Brigitte Frank, sich im Auto durch die Ghettos fahren und von den jüdischen Geschäftsinhabern Pelze aufladen ließ, ohne zu bezahlen, nur gegen die vage Hoffnung der Juden, der Vernichtung zu entgehen. Ein schönes Beispiel übrigens auch zum Thema Krieg und Verdienen …
Ob Hans Frank seine Untergebenen persönlich gehasst hat, weiß man gar nicht einmal so genau. Wahrscheinlich waren sie ihm einfach egal. Ein Zitat aus dem Diensttagebuch von Hans Frank: „Wenn wir den Krieg einmal gewonnen haben, dann kann meinetwegen aus den Polen und aus den Ukrainern und dem, was sich hier herumtreibt, Hackfleisch gemacht werden, es kann gemacht werden, was will. Aber in diesem Augenblick kommt es nur darauf an, ob es gelingt, fast 15 Millionen eines gegen uns sich organisierenden Volkstums in Ruhe, Ordnung, Arbeit und Disziplin zu halten.“ Ruhe, Ordnung … Fast die Beschreibung einer Gesellschaft ohne Spaltung; die mit eisernen Klammern zusammengehalten wurde, solange Bewegung in ihr ein Hindernis auf dem Weg zur Weltherrschaft für das faschistische Deutschland war.
Das heißt: Leute wie Ohain oder Frank brauchten keine Liebe und keinen Hass, um so zu handeln, wie sie gehandelt haben. Sie haben im Sinne der faschistischen Ideologie gehandelt. Sie haben sie akzeptiert, sich bestenfalls vor ihr weggeduckt (wie vielleicht Ohain) oder aber sie aktiv vertreten und durchgesetzt (wie Frank). Und auch, wenn hier und heute im politischen Sinne von „Hasskommentaren“ gesprochen wird, dann ist das ein Deckname. Der wirkliche Name lautet: Faschismus, faschistische Ideologie. Die sich gegen alles richtet, was rechtem Denken und rechter Politik im Weg ist: Ausländer, Unangepasste, Andersdenkende, Antimilitaristen, Leute, die Hierarchien nicht akzeptieren, die nicht viel von Patriotismus halten, die keine Religion brauchen, die tolerant und liberal sind – alles, was die Ordnung bedroht: in der die einen behalten sollen, was sie haben, und die anderen von ihnen abhängig bleiben. Und natürlich in Alarmlautstärke, denn man fühlt sich ja bedroht … Ja, die „Hasskommentatoren“ machen auch den Job der Besitzenden.
Das muss dem „Hasskommentator“ nicht einmal bewusst sein. Es gibt genug nicht überwundenes faschistisches Denken aus der Vergangenheit. Durch den konkurrenzgeprägten Arbeitsalltag wird es bestärkt und durch eine jetzt sehr starke Partei am rechten Rand zusätzlich befeuert. Wer das „Hass“ nennt, der scheut diese Klarstellung.
Und es stellen sich Fragen: Warum spricht man von Hass, nicht von Faschismus? Will man den rechten Rand nicht abschrecken? Will man so die Gesellschaft zusammenhalten? Will man so Frieden sichern – oder das, was man darunter eben versteht?
Und es stellen sich weitere Fragen, gerade aus friedenspolitischer Sicht: Spielt man nicht mit dem Feuer? Ist aus der Geschichte nicht bekannt, dass Faschismus und Krieg zusammengehören? Die, vor deren Mahnmal wir hier stehen, haben das noch sehr genau gewusst! Ist aus der Geschichte nicht bekannt, wie aggressiv der Faschismus ist? Dass er für andere Länder noch viel mehr Leid bringen würde als jeder heutige sogenannte Auslandseinsatz? Ist aus der Geschichte nicht bekannt, dass Faschismus die Auslöschung aller Kultur bedeutet? Dass von Gesellschaft dann überhaupt nicht mehr die Rede sein kann, bestenfalls von „Volksgemeinschaft“, in der die einen dazugehören und die anderen nicht und die, die nicht dazugehören, nur noch dafür gut sind, liquidiert zu werden?
Um Frieden zu erreichen, müsste man mindestens Waffenexporte stoppen und die Rekrutierung Jugendlicher beenden. Das wäre nur der allererste Schritt, und auch der berührt in der gespaltenen Gesellschaft auch schon sehr viele Interessen. Um aber die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, müsste etwas ganz anderes getan werden, als irgendwie wolkig über „Hasskommentare“ zu reden. Man müsste sie verändern.
Halten wir uns an Rosa Luxemburg und schließen wir mit einem bekannten Zitat von ihr. Das, wenn man es sich genau ansieht, wiederum ein Zitat ist. Aber das zeigt ja nur, wie lange es diesen Gedanken schon gibt. Es beweist, dass man den wahren Weg zu einer gerechten und friedlichen Gesellschaft für alle schon lange kennt. Rosa Luxemburg schrieb 1906: „Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer »das laut zu sagen, was ist«.“
Vielen Dank!
Fotos: Fritz Beise