Hier veröffentlichen wir die Rede unseres Vorstandsmitglied Carsten Penzlin anlässlich des Gedenkens für die Opfer des Faschismus am 11. September 2022 im Rostocker Rosengarten.
Liebe Anwesende,
Veranstalterin heute ist die VVN-BdA, die VVN-BdA besteht seit 1947; ihr Ziel war und ist es, an die Verbrechen der Nazis zu erinnern und alle Tendenzen von Neofaschismus und Rassismus in der Gesellschaft zu bekämpfen. Dazu gehört neben dem Kampf gegen Antisemitismus auch der Kampf gegen rassistische Vorurteile gegenüber den Sinti und Roma – und das soll heute Schwerpunkt meiner Rede sein.
Heute leben in Deutschland etwa 70.000 Sinti und Roma. 1995 wurden sie als nationale Minderheit anerkannt. Seit 2012 erinnert das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in der Nähe des Berliner Reichstags an den Völkermord an den Sinti und Roma. Die Sinti und Roma blicken auf eine lange Geschichte der Ausgrenzung zurück, die im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt fand: Es wird geschätzt, dass in Europa zwischen 220.000 und 500.000 Sinti und Roma dem Nazi-Terror zum Opfer fielen. Von den rund 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden mehr als 25.000 ermordet.
Die Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma hatte bereits damals eine lange Tradition. Schon in der Weimarer Republik waren sie von den Behörden erfasst und entrechtet worden, waren strenger polizeilicher Überwachung und strengen Aufenthaltsbeschränkungen ausgesetzt. Auch nach 1945 verschwand der Antiziganismus nicht einfach aus den Köpfen der Menschen, eine Parallele zum Antisemitismus. Die Aufarbeitung des Völkermordes ließ lange auf sich warten. Entschädigungsanträge von Sinti und Roma lehnten die bundesdeutschen Behörden in der Regel mit dem Argument ab, es habe sich nicht um rassistische Verfolgung gehandelt. Bis 1963 war ein Urteil des Bundesgerichtshofs in Kraft, welches die Deportation der Sinti und Roma nicht als Verbrechen, sondern als eine „präventive Verbrechensbekämpfung“ interpretierte. Auch in der DDR setzte sich die Ausgrenzung, trotz formaler Gleichstellung, teilweise fort: Die Volkspolizei führte die von den Nazis angelegten „Zigeunerpersonalakten“ weiter.
Ich bin in den 90er Jahren in Rostock aufgewachsen, damals war die abwertende Sicht auf die Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma Alltag in der Stadt, das Pogrom von Lichtenhagen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch 30 Jahre danach werden die rassistischen Hintergründe des Pogroms relativiert, deshalb war es so wichtig, dass in den vergangenen Wochen in Rostock ein breites Bündnis an die Ereignisse von damals erinnerte und dabei großes Augenmerk auf die direkt Betroffenen legte, also auch auf die Sinti und Roma, gegen die sich 1992 der Hass vor allem richtete. So geschehen auf einer Veranstaltung im PWH oder auch auf der großen Demo am 27.8. Und tatsächlich sind diese Zeitzeugenberichte geeignet, neue Erkenntnisse über die Ereignisse von 1992 zu gewinnen, z.B. über die Lebensgefahr, in der Sinti und Roma im Sonnenblumenhaus ausgesetzt waren, schon Tage bevor es die Bilder vom brennenden Haus gab, die um die Welt gingen.
An die Ausschreitungen von damals erinnert am Rathaus eine Gedenktafel. Sie wurde im Herbst 1992 durch jüdische Aktivistinnen angebracht, was einen brutalen Polizeieinsatz auslöste, der noch heute beschämen muss. Die Tafel hing nur wenige Tage und verschwand dann. 20 Jahre später begaben sich die VVN-BdA und die Fraktion der Linken im Rathaus auf Spurensuche: Wo war die Tafel geblieben? Recherchen ergaben, dass die Tafel im Büro des Präsidenten der Bürgerschaft gelandet war; dort wurde sie nun aber nicht gefunden, stattdessen wurde auf das Archiv verwiesen, aber auch dort keine Spur. Heute wissen wir, dass die Tafel im Kulturhistorischen Museum liegt.
Vor 10 Jahren wurden Rostocker Antifaschistinnen aktiv und ließen eine Replik anfertigen und am Rathaus anbringen, allerdings nicht am Haupteingang wie 1992, sondern am Seiteneingang. Das Anbringen der Gedenktafel wurde von den über 1000 Kundgebungsteilnehmerinnen lautstark begrüßt und beklatscht, berichtete die Presse. Die Stimmung in Rostocker Stadtparlament war eine andere, dort überwog die Ablehnung, insbesondere wegen des Textes auf der Tafel. Auf der Tafel wird nicht zufällig zugleich der Millionen Juden, Sinti und Roma gedacht, die dem Völkermord der Nationalsozialisten zum Opfer fielen; es wird ganz bewusst eine Linie von Auschwitz bis Lichtenhagen gezogen. Aber man kann doch Auschwitz nicht mit Lichtenhagen vergleichen, empörten sich viele in der Stadtpolitik. Doch das geht; aus den Reihen der VVN-BdA wurde damals argumentiert, dass doch nicht wir als Tätervolk darüber bestimmen dürfen, was die Hinterbliebenen der durch die Nazis gequälten und vernichteten Sinti und Roma denken und fühlen sollen, wenn sie ein brennendes Haus in Lichtenhagen sehen.
Wir haben es vor allem dem damaligen Oberbürgermeister Roland Methling zu verdanken, dass die Tafel hängen blieb: „Das Anbringen der Tafel ist seit 1992 längst überfällig“, sagte er. Er machte quasi von seinem Hausrecht Gebrauch, auch wenn eine große Mehrheit der Bürgerschaft dagegen war. Nur wenige Tage später forderte die NPD in einem Antrag an die Rostocker Bürgerschaft, die Tafel unverzüglich wieder zu entfernen, weil der Text der Tafel die wahren Umstände von 1992 außer Acht lasse, diese wahren Umstände waren aus Sicht der NPD das Verhalten der Roma und das Versagen der Behörden. Aus Sicht der NPD sollte die Tafel den Schuldkult der Deutschen pflegen.
Zunächst wurde die frisch angebrachte Gedenktafel rund um die Uhr von einer Polizeistreife bewacht; im Dezember 2012 verschwand die Tafel spurlos, an ihrer Stelle klebte ein Schild mit der Aufschrift „Für immer Deutschland!“; schnell wurde die Tafel ersetzt. Im August 2019 wurde die Tafel wieder entfernt, der Täter jedoch gefasst und die Tafel wieder am Rathaus angebracht, diesmal richtig gut befestigt.
Die Tafel passt sehr gut ans Rathaus, sie erinnert daran, dass Lichtenhagen für immer ein Teil der Rostocker Geschichte sein wird, quasi auch eine offene Wunde, so lange es noch Rassismus in der Stadt gibt. Das mag nicht jeder gerne hören in Rostock, wo viele den Eindruck haben, dass man die Rostocker Bevölkerung unverdient auf die Anklagebank setzt; viele Menschen in Lichtenhagen fühlen sich stigmatisiert. Cornelia Kerth von der VVN-BdA sagte 2012: „Viele Einheimische bedauern mehr, dass die Bilder von 1992 aus ihrer Heimat stammen, als dass sie die Anschläge selbst bedauern.“ Die Tafel am Rathaus soll uns stetig daran erinnern, dass Lichtenhagen 92 unsere Geschichte ist, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, aus der wir alle lernen müssen.
Die Tafel am Rathaus erinnert aber auch an das Versagen der Politik, damals wie heute. Noch immer wird Antifaschismus viel zu oft kriminalisiert. Vor 10 Jahren diffamierte IM Lorenz Caffier die Rostocker Demo als linksextremistisch, während er in seiner Amtszeit rechtsextreme Strukturen in den Sicherheitsorganen duldete. Die Tafel am Rathaus ist also immer auch Stachel im Fleisch der Politik; jede Person die das Rathaus durch diesen Eingang betritt, kann dort lesen, dass sie die historische Verpflichtung hat, zu verhindern, dass sich Gewalt und Menschenverachtung jemals wiederholen. Das ist doch eine gute Sache, vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.