Vor wenigen Wochen ist Lore im Alter von 98 Jahren verstorben. Die letzten Monate verbrachte sie bereits in einem Heim. Kamerad*innen der VVN hatten Sie dort auch nochmal besucht. Marie Louise Hänsel berichtet von Lores unglaublicher Lebensgeschichte.
Lore und Alfons – eine Liebe in Bolivien
Ein Kaffeenachmittag bei Alfons und Lore Pawlowski war jedes Mal eine anregende Sache. Obwohl schon hochbetagt, waren sie auf dem Laufenden, sowohl in der politischen Auseinandersetzung als auch auf dem Gebiet von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie lasen Zeitungen, und nicht nur regionale, und informierten sich über Discovery und ARTE. Das Gespräch schloss auch regelmäßig Diskurse über neuere Geschichte mit ein, gespeist aus eigenen Erlebnissen. Immerhin ist Alfons Jahrgang 1910, und Lore wurde 1922 geboren. Seit über 50 Jahren wohnten sie in Rostock. Lore arbeitete viele Jahre als Erzieherin in Kindergärten unserer Stadt und Alfons als Elektroingenieur in der Hochbauprojektierung. Aber nur wenige kennen ihre Geschichte.
Ich lernte Lore und Alfons 1995 auf der Überfahrt nach Gedser kennen. Der Verband der aktiven Widerstandskämpfer Dänemarks hatte eine Delegation des damaligen Interessenverbandes der Verfolgten des Naziregimes zum 50.Jahrestages der Befreiung Dänemarks vom Hitlerfaschismus nach Kopenhagen eingeladen. Wir jüngeren Teilnehmer*innen wunderten uns über die beiden „Alten“. Warum nahmen sie diese Strapazen auf sich? Da war sie ja schon über 70, er über 80.
Erst viel später erfuhr ich ihre Geschichte.
Die Geschichte einer großen Liebe, die Geschichte unglaublicher glücklicher Umstände, die Geschichte des 20.Jahrhunderts.
Lore wurde in Jena, in einer jüdischen Familie geboren. Ihre Jugendzeit verbrachte sie wohlbehütet in Erfurt. Ihr Vater, Jakob Hermann, arbeitete als Kaufmann im Großhandel für Uhren, ihre Mutter, Berta Hermann, geborene Baer, als selbständige Schneidermeisterin. Lore hatte noch einen jüngeren Bruder Helmut. Jakob Hermann war ein vielseitiger Mann. Er leitete einen großen Kleingartenverein, gehörte zu den Freidenkern und war Anhänger der Monisten. Diese Vielseitigkeit und sein offenes Wesen brachten einen großen Freundeskreis mit sich, der sich später als lebensrettend erweisen sollte. Dass sich ihr bis 1933 beschauliches Leben von Grund auf ändern würde, war dem Vater als erstem klar. Trotzdem reagierte er nicht überhastet. Er sorgte dafür, dass ihr tägliches Leben wie bisher ablief. 1936 war es so weit. Jakob Hermann hatte einen Freund bei der Polizei. Seine Warnung vor der drohenden Verhaftung erreichte die Familie noch rechtzeitig. Gepackt wurde sofort, in der Nacht.
Wie zu einer längeren Bergwanderung gerüstet zogen Jakob und Berta Hermann mit ihren beiden Kindern Pfingsten 1936 in aller Frühe los. Jeder trug nur so viele Sachen bei sich, wie in seinen Rucksack passte. Zu Hause blieb alles stehen und liegen. Kein Nachbar durfte etwas merken. Nur die Schwester des Vaters, die in Jena lebte, wusste Bescheid.
Mit der Bahn fuhren sie mit vielen Ausflüglern in Richtung Riesengebirge. Mit Tagesausweisen passierten sie die tschechische Grenze, überquerten zu Fuß die Schneekoppe und waren zunächst in Sicherheit. Der Vater wollte nach Brünn und von dort nach Moskau, zu seinem Freund, der dort als Professor an einer Hochschule tätig war. Aber für Brünn erhielten sie keine Aufenthaltsgenehmigung, deshalb fuhren sie weiter nach Prag. Hier gab es schon eine Betreuungsstelle für jüdische Emigranten.
Richtung Lateinamerika
Zum Glück hatte die Mutter ein Handwerk gelernt, dass immer und überall gebraucht wird. Mit ihrer Näherei ernährte sie in Prag die ganze Familie. Auch Lore trug zum Familienbudget bei. Sie betreute die Kinder der Emigrantenfamilien. In Prag erreichte sie ein Brief aus Moskau. Der Freund des Vaters riet dringend von einer Einreise in die Sowjetunion ab, ohne dafür eine große Erklärung abzugeben. Nun bemühte sich der Vater um eine Ausreise nach Lateinamerika. In Prag gab es einen Honorarkonsul für Bolivien, der Hilfe versprach. Aber es sollte noch über ein Jahr vergehen, bis Lores Vater die erforderlichen Reiseunterlagen und Pässe in Händen hielt.
„Das italienische Schiff „Oratio“ nahm sie mit nach Bolivien. Es hatte nur Menschen an Bord, die vor Hitler flüchteten.“
Im Sommer 1938 brach die Familie von Prag auf. Über Budapest, Triest, Mailand und Venedig führte der Weg nach Genua. Das italienische Schiff „Oratio“ nahm sie an Bord. Es hatte nur Menschen an Bord, die vor Hitler flüchteten: Jüd*innen, Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen, Gewerkschafter*innen, Ärzt*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Kaufleute, Menschen aller Konfessionen. Die Überfahrt zahlte die Liga für Menschenrechte. Nach über vier Wochen erreichte die „Oratio“ den chilenischen Hafen. Eine beschwerliche Reise stand allen noch bevor. Über die Anden wanderten sie nach Charandia, die Grenzstation zwischen Chile und Bolivien. Hier bestiegen sie den Zug nach La Paz. In der Hauptstadt Boliviens hatten deutsche Emigranten schon ein Komitee mit Namen „Klub Freundschaft“ gegründet, um Neuankömmlingen zu helfen, sich einzuleben. Lores Vater hatte frühzeitig Pläne geschmiedet. Auf der langen Reise und in Gesprächen mit anderen Emigranten nahmen sie feste Gestalt an. Jakob Hermann wollte in den bolivianischen Urwald. In der Nähe des Flusses Coni wollte sich die Familie niederlassen, Bäume roden und für sich Land urbar machen. Zu der Zeit gab es eine Urwaldkolonie, die „Porta polonia“, nach deren Vorbild der Vater für seine Familie eine neue Heimat schaffen wollte.
Lore und Alfons
Für Lore endete die Reise aber schon in La Paz. Als die Familie Hermann auf dem Bahnhof ankam, wartete dort Alfons. Als Mitbegründer des „Klubs Freundschaft“ begrüßte er die Neuankömmlinge in Bolivien. Er versorgte die Familie und andere mit Verpflegung und Unterkunft, erledigte mit ihnen die vielen Behördengänge und verschaffte ihnen die erste Arbeitsstelle.
Und er verliebte sich in die 17-jährige bildhübsche Lore mit dem lockigen braunen Haarschopf. Ein Jahr später heirateten sie.
Lores Eltern zogen in den Urwald. Vater und Bruder starben schon 1941 an einer gefährlichen Urwaldkrankheit. 14 Jahre später kamen Lore und Alfons mit zwei kleinen Kindern und der alten Mutter zurück nach Deutschland, in die DDR. Für sie gab es keine andere Entscheidung. Rostock wurde zu ihrer dritten Heimat. Hier wurden ihnen noch zwei Kinder geboren.
Übrigens hatte Alfons auf ebenso abenteuerlichen Wegen von Breslau aus über die Schneekoppe und Prag, nur ein Jahr früher, mit der „Oratio“ Bolivien erreicht. Als Mitglied der KPD hatte er 1934 und nach einer monatelangen Inhaftierung den Auftrag erhalten, Deutschland zu verlassen.
Zu Lores und Alfons gemeinsamen Freunden gehörte in Argentinien und später in der DDR die Emigrantenfamilie Bunke. Die kleine Tamara, die spätere Gefährtin Che Guevaras, die mit ihm in den Tod ging, war oft bei ihnen zu Besuch.
Verlust einer aufrechten Kämpferin
Auch in hohem Alter hatte Lore, wenn es ihre Gesundheit erlaubte, an Veranstaltungen zum Gedenken an die vielen Opfer teilgenommen und alle Nachrichten über rechtsextreme Entwicklungen in unserem Land mit großer Besorgnis verfolgt.
Lore und Alfons` Haltung ist ein Gedenken an all die Opfer des Faschismus, die nicht das Glück hatten wie sie. Mit Lore verloren wir eine aufrechte Kameradin und die Gesellschaft eine weitere Zeitzeugin. Bewahren wir Ihre Erinnerungen, ihr Leben.