Im November 2021 beschloss die Bürgerschaft Rostock, die Einrichtung einer Gedenkstätte auf dem Neuen Friedhof für die in Rostock bestatteten Verfolgten des Naziregimes in die eigenen Hände zu nehmen. Hannelore Rabe engagiert sich in der VVN-BdA seit fast 15 Jahren in der AG Friedhof für eine solche Gedenkstätte. Anlässlich des Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus sprach sie auf der Gedenkveranstaltung der Hanse- und Universitätsstadt und stellte Opferbiografien vor:
Wir stehen heute an dem Gräberfeld, auf welchem von 1959 bis 1967 Menschen beigesetzt wurden, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten verfolgt wurden, aber deren Ende überlebt haben. Auf einigen Grabsteinen ist noch das Signum VdN zu lesen.
Ich möchte heute nicht sprechen, über bekannte Widerstandskämpfer, über die Dissertationen und Bücher geschrieben wurden; ich möchte sprechen über den Schlosser an der Werkbank, den Seemann in der Maschine, den Arbeiter am Fließband, die Hausfrau aus der Nachbarschaft, den Verkäufer in der Drogerie.
Sie wurden verfolgt – weshalb verfolgt?
Diese Frauen und Männer wollten nicht, dass Deutschland ein „Großdeutschland“ wird, ein „Volk ohne Raum“, das größer und immer größer werden sollte, seine Nachbarländer besetzt, seine „Wehrmacht“ über deren Grenzen marschieren lässt und den Völkern vorschreibt, wie sie nach deutschem Vorbild zu leben haben. Diese Frauen und Männer wollten nicht, dass sich deutsche Rüstungskonzerne der Ideologie und der Politik des NS-Regimes bedienten, um noch reicher und mächtiger zu werden. Sie wollten auch nicht, dass Menschen, ja ganze Menschengruppen aussortiert werden,
- weil sie den Idealen der arischen Rasse nicht entsprechen,
- weil sie körperlich oder geistig behindert sind,
- weil sie gleichgeschlechtlich lieben und leben wollen, weil sie Sinti und Roma sind,
- weil sie als Juden für jedes Unglück der Deutschen verantwortlich gemacht werden.
Vor Kurzem stand hier noch der Stein von Wilhelm Berg. Der Schlosser kam 1934 von Kiel nach Rostock. Er arbeitete zunächst auf der Neptun-Werft, später als Schweißer bei den Arado-Flugzeugwerken in Warnemünde. Seiner Überzeugung gemäß trat er nach Beginn des Krieges 1939 in Gesprächen mit seinen Arbeitskollegen gegen den Krieg und die verbrecherische NS-Politik auf und äußerte: in den Wehrmachtsberichten würden Unwahrheiten verbreitet. Deswegen wurde er im September 1940 von Nazis aus dem Kreis der Betriebsobleute brutal zusammen geschlagen und der Gestapo ausgeliefert. 1940 verurteilte ihn ein Sondergericht in Rostock (übrigens im Ständehaus am Steintor) zu zwei Jahren Gefängnis, die er im Zuchthaus Bützow-Dreibergen verbringen musste.
Wir erinnern an Minna Jagnow, die als Verbindungsperson zur Widerstandsgruppe ihres Mannes fungierte. In der „Roten Hilfe“ übernahm sie den Zeitungsvertrieb. Trotz wiederholter Hausdurchsuchungen versteckte sie zwei jüdische Bürger vor den Nazis und konnte ihnen zur Flucht verhelfen.
Wilhelm Schumacher wurde 1914 Mitglied der SPD. Bei der Abwehr des Kapp-Putsches 1920 war er Zugführer in den Kämpfen bei Schutow und Teschow. Von 1923 bis 1933 fungierte er als Vertrauensmann der Schiffbauer der Neptun-Werft und war im erweiterten Betriebsrat der Werft tätig. Im Widerstand gegen die Nazis diente die Anschrift von Wilhelm Schumacher als Deckadresse zur Verbreitung von illegalen Schriften und seine Wohnung für konspirative Treffen. 1934 wurde er vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt und war im Zuchthaus Bützow-Dreibergen inhaftiert.
Spektakulär geht es im Bericht über Paul Päthe zu. Er gehörte einer kommunistischen Widerstandsgruppe in Rostock an. Die Gruppe malte politische Losungen an die Wände der Stadt und verteilte Flugblätter, die sie in einer Schreibmaschinen-Reparaturwerkstatt anfertigen konnten. Ein Häftling im Rostocker Gefängnis berichtete:
Am Morgen des 1. Mai schaute ich durch das vergitterte Fenster. Von da aus konnte ich weit hinaus in Richtung Kröpeliner Tor, Doberaner Straße und Wallgraben sehen. Mit einem Male – sah ich denn recht? Da wehte doch eine rote Fahne! Die musste auf dem Schornstein der Brauerei sein.
Was war geschehen?
Paul Päthe hatte mit zwei weiteren Arbeitern in der Nacht vorher den Schornstein der Klostermühle erklettert und die Fahne angebracht. Im Hochverratsprozess 1935 in Rostock stand er mit 13 anderen Antifaschisten vor Gericht. Er musste eine Zuchthausstrafe von 2 Jahren verbüßen.
Kabarett hinterm Stacheldraht
Hier und auf den Rostocker Friedhöfen wurden auch Menschen beigesetzt, die die Nazis „aussortieren“, dezimieren, vollständig vernichten wollten.
Dieter Renner, homosexuell und „Halbjude“ wurde mit 17 Jahren über die Organisation Todt, wie mein Mann Uli Rabe übrigens auch, nach Frankreich ins Lager deportiert. Unter Lebensgefahr mussten sie zerstörte Gleisanlagen reparieren, Auftragnehmer der Nazis war übrigens die auch heute noch allgegenwärtige STRABAG.
Das Schauspielerehepaar, die Juden Lisl und Hans Hofer aus Wien und Prag, haben insgesamt fünf Konzentrationslager überlebt. Im Ghetto Theresienstadt haben sie Kabarett gespielt. Kabarett – im Anblick des Todes? Wie ist das möglich? War das ihre Form des Widerstandes gegen die Grausamkeiten an den Häftlingen? Ja! Zum einen gab es etwas im Alltag, das vom Hunger, der Kälte, den Läusen und der Angst vor dem nächsten Transport ablenkte. Zum anderen regten die Kabarett-Texte und deren Interpretation durch die Künstler zum Nachdenken über die Verursacher ihrer Leiden an, gaben den Häftlingen, Selbstbewusstsein, Hoffnung und manchmal auch Kraft fürs Überleben. Totentanz – Kabarett hinterm Stacheldraht. Nach der Befreiung aus den verschiedenen Lagern fanden sich Hans und Lisl in Prag und spielten wieder Theater. 1960 holte Hans Anselm Perten die beiden als Schauspieler*innen an das Volkstheater Rostock und manch Rostocker*in kennt sie noch aus dieser Zeit.
Ein Ort des Erinnerns
Die Bürgerschaft der Stadt Rostock hat beschlossen, sich auch dieser dunklen Seite ihrer Stadtgeschichte zu stellen. Damit outet sich Rostock einmal mehr als eine offene, moderne Stadt, die bereit ist, auch mit dieser Vergangenheit verantwortungsvoll umzugehen. Auf einem noch zu schaffendem Areal werden 34 Grabsteine und 151 Namen an diese Zeit erinnern. Ganz gleich, wie sich das Leben der Frauen und Männer, ihr Denken und Handeln weiter gestaltete, eines eint sie alle: Sie wurden in der Zeit des Nationalsozialismus, aus welchen Gründen auch immer, brutal verfolgt. Für sie soll es eine Gedenkstätte geben. Aber es wird nicht nur eine Stätte sein, an der man Menschen gedenkt, die man kannte. Ich zum Beispiel war neun Jahre alt, als der Krieg endete. Ein Jahr später hätte ich zum BDM gemusst. Ich habe Lisl und Hans, habe Dieter, Paul und Minna noch kennengelernt.
Die künftige Anlage wird wohl eher ein Ort des Erinnerns sein. Enkel und Urenkel, Schüler, Jungen und Mädchen, Studenten, Gäste der Stadt; spätere Generationen werden diese Namen lesen und sich erinnern. Erinnern an das, was sie gehört, gelesen und gesehen haben, im Geschichtsunterricht, bei Gesprächen in der Familie, in Büchern und Filmen. Wenn sie diese Namen lesen, werden sie erinnert an eine Zeit, als auch in Rostock Kolonnen grölend durch die Stadt zogen, mit „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ und sie werden dann hier erinnert an mutige Menschen, die „Nein“ sagten, die von einer friedvollen Zukunft träumten.
So werden spätere Generationen ihre eigene Geschichte besser verstehen, darüber nachdenken und vielleicht auch bereit sein, entsprechend zu handeln.