Cornelia Kehrt, Bundesvorsitzende der VVN-BdA, war auf Einladung der VVN-BdA Rostock am 9. September 2012, dem ‚Tag der Erinnerung – Mahnung – Begegnung‘ nach Rostock gekommen. Wir dokumentieren ihre Rede, die sie auf der Kundgebung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus hielt:
„Liebe Kameradinnen und Kameraden,
wir sind heute an diesem Mahnmal zusammengekommen, um unserer Toten zu gedenken.
Am Internationalen Gedenktag für die Opfer der Faschismus erinnern wir an all‘ jene, die der faschistischen Volksgemeinschaft zum Opfer fielen, die als Jüdinnen und Juden, Sinti oder Roma, als Menschen mit Behinderung, als Homosexuelle oder sozial aus ihr ausgeschlossen waren.
Und wir erinnern an jene, die dieser Volksgemeinschaft gar nicht angehören wollten, die meist aus politischen, seltener aus religiösen oder einfach nur aus Gründen von Anstand und Moral, Widerstand leisteten und deshalb verfolgt wurden. Zuchthaus, KZ, Ermordung, im günstigsten Fall Flucht und Überleben im Exil mussten sie in Kauf nehmen
Der weit überwiegende Teil dieser Tapferen kam aus der Arbeiterbewegung, vor allem aus der Kommunistischen, auch aus der Sozialdemokratischen Partei, aus Gewerkschaften und Jugendverbänden.
Ihrer zu gedenken ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Erinnerung an die Widerständigen ist doch zugleich die Erinnerung daran, dass man schon vor 1933 wissen konnte, was Faschismus war, dass man vom 1. Tag an sehen konnte, was geschah, dass man nicht zum Mitläufer oder Mittäter werden musste, dass, wer sehen wollte, sah und verstand und sich entscheiden konnte zu widerstehen.
Der Preis, den sie dafür zahlten, war hoch. Dass sie dennoch widerstanden, ist für uns Nachgeborene ein Grund für tiefe Dankbarkeit. Wir verdanken ihnen, dass wir mit erhobenem Haupt durch’s Leben gehen können.
Dafür stehen wir aber auch in der Pflicht, ihr Vermächtnis weiterzutragen: die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln, den Aufbau einer neuen Welt der Friedens und der Freiheit, wie es im Schwur der überlebenden Häftlinge von Buchenwald heißt.
So wie die Gesellschaft die Erinnerung an Nazi-Terror, Widerstand und Völkermord auf Feierstunden am 27. Januar und am 20. Juli beschränkt, so ist auch dieses Vermächtnis schon lange nicht mehr Richtschnur politischen Handelns. So wie viele Gräber der Verfolgten nach und nach von dem Friedhof verschwunden sind, den wir gemeinsam besuchen werden, so sind nach und nach die Bestimmungen des Grundgesetzes verschwunden, die einst einen bewussten Gegenentwurf zum faschistischen Staats- und Gesellschaftsverständnis darstellten.
Nicht immer durch Streichung und Ersetzung wie beim Grundrecht auf Asyl – wir haben vor 2 Wochen an das Pogrom in Lichtenhagen erinnert, dass dem vorausging.
Meist werden die Lehren aus dem Faschismus schlicht „weg interpretiert“:
Das Verbot eines Angriffskriegs, z. B.: „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“, sagte der sozialdemokratische Verteidigungsminister Struck. Als der Bundespräsident Köhler aussprach, was seit 1992 in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ steht, dass nämlich der Zugriff auf strategische Rohstoffe militärisch zu sichern sei, musste er gehen.
Das Sozialstaatsgebot, z. B.: Der Sozialstaat wurde nicht abgeschafft, sondern „umgebaut“; das Wort „Reform“ – einst Anlass zur Hoffnung – ist seither zum Schreckgespenst geworden.
Der Artikel 139 Grundgesetz z. B., der die Fortgeltung der Potsdamer Beschlüsse, also das dauernde Verbot aller faschistischen Organisationen, bestimmt, sei „obsolet“ geworden – spätestens seit dem „2+4-Vertrag“ von 1990. Im souveränen wieder vereinigten Deutschland darf es also auch wieder faschistische Organisationen geben, heißt das, und so ist es juristische Mehrheitsmeinung.
Das Ergebnis kennen wir: Nazis in Stadt-, Kreis- und Landesparlamenten, Abgeordnetenbüros als Propagandazentralen im ländlichen Raum.
Mehr als 150 Tote, ermordet von angeblichen Einzeltätern und einen „Nationalsozialistischen Untergrund“ mit Verbindungen in aller Richtungen des braunen Netzes. Die Verbindungen zum Inlandsgeheimdienst, genannt „Verfassungsschutz“, zumindest dubios.
Und sie marschieren weiter, immer öfter mit einem „AbschieBär“ in der ersten Reihe. Mit solch widerlicher rassistischer Hetze wollen sie anknüpfen an den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft. Sarrazin spricht aus, was BürgerInnen in Ost und West in erschreckendem Ausmaß in der Birne tragen:
Antisemitismus und Chauvinismus fast jedeR Dritte, anti-islamische Ressentiments mehr als die Hälfte; nach Antiziganismus wurde nicht gefragt. Nach Griechen auch nicht.
Wir leben in wüsten Zeiten, die Verrohung nimmt allenthalben zu. Wir leben in Zeiten, die Widerspruch erfordern. Noch gehört dazu kein Mut. Nur ein wenig Zeit, Engagement, Durchhaltevermögen und Rückgrat. Das haben wir – die VVN-BdA – in den letzten Monaten auch in Rostock gebraucht. Und wie gut war es, dass so viele gekommen sind und so viel berichtet wurde. Und wie gut war es, dass auch der OB und die Kultursenatorin an dieser Stelle Rückgrat gezeigt haben.
Die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der deutschen Faschisten, des faschistischen Deutschland, ist zugleich der Auftrag, dafür zu sorgen, dass es nie wieder geschehe. In Rostock-Lichtenhagen und in anderen Städten waren die Anfänge schon wieder sichtbar.
Auch diese Erinnerung, die Erinnerung daran, wie dünn die Schicht ist, die darüber liegt, ist notwendig. Und es ist notwendig daraus Konsequenzen zu ziehen.
Wir wollen, dass den antifaschistischen Bestimmungen des Grundgesetzes wieder Geltung verschafft wird:
Verbot der NPD und aller anderen Nazi-Organisationen
Schluss mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr
Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl
Solidarische Daseinsvorsorge statt Kapital-Fürsorge.
Und in dankbarer Erinnerung an den europäischen Widerstand gegen den Faschismus, an dem sich unsere Kameradinnen und Kameraden in der französischen Resistance, im spanischen Krieg, im Exil vieler Länder, als Deserteure und in den Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition beteiligt haben, fordern wir ein Europa der Völker, nicht des Kapitals.
Damit wir dem Vermächtnis unserer Toten eine Schritt näher kommen.“
Cornelia Kerth
Über die Veranstaltung am Mahnmal und die folgende Begegnung auf dem Neuen Friedhof gibt Hannelore Rabe, Mitglied des Rostocker VVN-BdA Vorstands, die folgenden Eindrücke wider:
„Auf unserer Veranstaltung im Rosengarten waren fast 100 Teilnehmer versammelt.
Unsere „ganz Alten“ trifft man hier kaum noch. Einige Neue, aber auch die Mitstreiter der letzten Jahre kommen häufiger. Und dann die Gruppe der jungen Antifaschisten – ganz gleich wie sie sich im Moment nennen – wichtig ist uns an dieser Stelle: – Das gemeinsame Anliegen.
Unsere heutige Rednerin Cornelia Kerth verstand es ausgezeichnet, sachlich und emotional ausgewogen den Tag zu würdigen und allen deutlich zu machen, worauf es jetzt ankommt.
Zeitplan und Organisation klappten vorzüglich und Jürgen Weise konnte zufrieden sein.
Eine kleine Gruppe Interessierter trafen sich auf dem Neuen Friedhof zum Rundgang.
Wertvoll und bezeichnend waren jedoch die Gespräche vorher auf der Bank am Eingang.
Als wir Cornelia berichteten, stellten wir fest, dass das Friedhofprojekt 10 Jahre alt ist. Nach den anfänglichen zaghaften vorsichtigen Schritten, manch Stolpern, Umkehren und Zweifeln ist es in Gang gekommen. Es hat die Mauern überklettert und wandert nun per Broschüre und Internet durch die Welt. Als Johanna, Christine, Käte und Hannelore dann begannen, Listen und neu entdeckte Namen abzuklären und Johanna über künftige neue Mitglieder für die Arbeitsgruppe informierte, beteiligte sich auch Cornelia an der Diskussion. Sie brachte Ratschläge ein, denn auch in den alten Bundesländern muss immer mehr über die Zukunft der OdF- Gräber nachgedacht werden. Harald Holtz dokumentierte dies alles wie immer per Foto.
Auch die Rundgänge verlangen durch die Fragen der Teilnehmer immer wieder neues Nachdenken – also:
Das Friedhofprojekt lebt und entwickelt sich – alles Gute und Erfolg auch in den nächsten Jahren!!“